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Von der Leistungsschau zum multisensorischen Festival: Warum Großveranstaltungen jetzt ein neues Playbook brauchen

Marc Schumacher, 08.05.2023

Salone del Mobile, OMR oder SXSW machen es vor: Große Live-Veranstaltungen wie Messen oder Branchentreffs können auch höchst erfolgreich sein in Zeiten, in denen sich die Bedürfnisse nach Information, Vernetzung und Entertainment convenient über digitale Kanäle bedienen lassen. Allerdings muss sich das Gesamtpaket radikal von den Blaupausen gelernter Formate lösen, um den Erlebnishunger der Besucher zu stillen, sagt Dr. Marc Schumacher, CEO AVANTGARDE Group.

Der beste Stimmungsaufheller in diesem bislang so kalten und trüben deutschen Frühling? Ein Ausflug über die Alpen nach Mailand. Wo die Salone del Mobile die gesamte Stadt in ein pulsierendes, kreatives Lifestyle-Mekka verwandelte. An jeder Ecke Pop-ups, Installationen, offene Ateliers, Symposien, Partys… Ungebrochener Spaß am Luxus zeigte sich an den Schlangen vor den noblen Stores in der Via della Spiga oder der Via Monte Napoleone; ausgelassene Feierlaune und Lust am Sehen und Gesehenwerden in den überfüllten Bars und Ristoranti. Der überwältigende Ansturm von Design-Interessierten aus aller Welt beweist, dass es der 61. Ausgabe der Salone del mobile mit ihrem urbanistischen Ansatz perfekt gelungen ist, den Zeitgeist zu treffen.

Das perfekte Biotop für Markenerlebnisse

Die Pavillons auf der Messe waren dabei nicht die Hauptattraktion. Es war die Stadt selbst, die sich unter dem Label „Salone“ so aufregend vielseitig und lebensfroh präsentierte – und damit auch Marken das perfekte Biotop für Selbstinszenierung vor einem anspruchsvollen, internationalen Publikum bot. Diese Möglichkeit nutzten nicht nur Luxus-Interior-Brands, sondern auch Marken aus anderen Branchen und Segmenten. Und schafften es, mit multisensorisch gestalteten Media Spaces zum Gesprächsthema zu werden. „Hast du schon Louis Vuitton gesehen?“ – „Noch nicht, wir waren erst bei Ikea.“ Was als Dialog, aus dem Kontext gerissen, absurd klingt, war während der Mailänder Designwoche üblicher Small Talk: Brands, die Lichtjahre voneinander entfernt scheinen, wurden, was die Qualität ihrer Installationen betraf, in einem Atemzug verhandelt.

Ob Google oder Frosta: Jeder will ein Rockstar sein

Sprung in den Norden Deutschlands zur Digital- und Medienkonferenz OMR, der mit ihrem Konzept Ähnliches gelungen ist. Die Online Marketing Rockstars werden am 9. und 10. Mai etwa 70.000 Menschen nach Hamburg locken. Warum? Weil sich die einstige B2B-Messe radikal in Richtung Festival weiterentwickelt hat. Auch das OMR breitet sich in diesem Jahr mit über 800 Speakern und mehr als 1000 Ausstellern und Partnern quer über die Stadt aus. Auch hier kommt zusammen, was eigentlich nicht zusammengehört: 2023 etwa stehen Tennisstar Serena Williams und Investor Frank Thelen ebenso auf der Liste der Top-Speaker wie Kanzleramts-Staatssekretär Jörg Kukies und Reality-TV-Figur Robert Geiss. Neben erwartbaren Playern aus dem Digitalmarketing wie Google, Salesforce oder TikTok finden sich auch Aussteller, deren Kerngeschäft so gar nichts mit Online-Marketing zu tun hat, wie Tiefkühlkost-Experte Frosta oder Uhrenhersteller IWC. Sie alle wollen Teil der großen Networking- und Party-Blase sein, die die Hansestadt für zwei Tage in Atem hält.

Sehnsucht nach Festival und kreativem Chaos

Die Großveranstaltung ist lebendiger denn je. Sofern sie ihren USP richtig ausspielt. Und mit Leidenschaft alles ist. Alles außer langweilig. Das gilt nicht nur für Europa, sondern auch für die USA, wo das legendäre Coachella-Festival auch diesen April wieder 100.000 Besucher in die kalifornische Wüste gezogen hat, obwohl alle Musik-Acts auch via YouTube zu verfolgen waren. Das Festival der Superlative entwickelt sich immer mehr zum viralen Mode-Event, wo sich nicht nur die vielen prominenten Gäste, sondern mittlerweile auch die Stars auf der Bühne mit spektakulären Looks überbieten.

Auch die South By Southwest (SXSW), die wohl wichtigste Medien- und Techkonferenz der Welt, legte nach der Pandemie ein furioses Comeback hin und ist ein Beleg für die Sehnsucht der Menschen nach Festival-Stimmung. Gut 70.000 Fachbesucher und mehr als drei Mal so viele Tagesgäste fluteten im März das texanische Austin. Sie drängelten sich auf den Gängen, in den Sälen, vor den Bühnen und in den Clubs der Stadt. Es war eng, es war laut, es war unübersichtlich – und einzigartig. Und während sich die SXSW im vergangenen Jahr noch stark auf die klassischen Vortrags- und Diskussionsformate fokussiert hatte, waren 2023 Markenerlebnisse zurück in der Stadt. Kreatives Chaos statt gepflegtem Networking, Reizüberflutung statt Konzentration. Der persönliche Tagesplan, vorab sorgfältig ausgearbeitet, war schon nach ein, zwei Stunden obsolet. Aber hey: that’s live!

Anonyme Messehallen? Zukunft sieht anders aus

Komplett aus der Zeit gefallen erschien mir dagegen ein ehemaliges Must in meinem persönlichen Messe-Kalender: die EuroShop in Düsseldorf. Große anonyme Hallen, dürftiges Essen in zugigen Durchgängen und Öffnungszeiten von 10 bis 18 Uhr. Hier hat man ganz offensichtlich die Transformation verschlafen. Das zeigt sich auch in den Zahlen. Kamen 2017 noch 113.000 Besucher zur EuroShop, waren es 2023 nur noch knapp 80.000. Wer in dieser Branche nicht anerkennt, dass Großveranstaltungen ein neues Playbook brauchen, schießt sich selbst ins Aus.

Live Experiences sollten so facettenreich sein wie die vernetzte Realität

Ob B2B oder B2C: Erfolgreiche Großveranstaltungen definieren sich heute vor allem als Sinnesabenteuer und Inspirationsquelle. Als Ganzjahres-Plattform versorgen sie ihre Community jenseits des physischen Events mit relevantem Content. Leuchtturm-Veranstaltungen wie die Salone del Mobile, die SXSW oder die OMR wollen mit dem Unerwarteten überraschen, anstatt etablierte Erwartungen zu bedienen.

Raus aus der Filterblase: Nur Großveranstaltungen mit pulsierendem Festivalcharakter können das Leben jenseits der Algorithmen mit all seinen Facetten präsentieren und orchestrieren. Sie müssen Mauern zwischen einzelnen Disziplinen niederreißen, sodass sich Technologie, Marketing und Kultur zu einem begeisternden Happening vereinen. Denn das spiegelt die immer stärker synergetisch vernetzte Realität sehr viel besser wider als die bislang üblichen Messen und Branchentreffen.